Pädagogische Fachzeitschriften 2007

Gottfried Biewer

Schulische Integration in Deutschland und Österreich im Vergleich

Dieser Artikel handelt von der schulischen Integration von Kindern mit Behinderung. Es wird die schulische Integration hinsichtlich struktureller Rahmenbedingungen, zeitlicher und statistischer Entwicklung und der Professionalisierung von Fachkräften in Deutschland und Österreich verglichen. Dabei wird festgestellt, dass ein Vergleich der Situation in beiden Ländern eine Reihe von Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede aufzeigt.

Strukturelle Rahmenbedingungen des Schulwesens

Die Strukturen des Regelschulwesens ähneln sich in Deutschland und Österreich, da die Primarstufe für die ersten 4 Schuljahre als Einheitsschule geführt wird und die Sekundarstufe I gegliedert ist in verschiedene Schulformen, wie Hauptschule und Gymnasium. Deutschland und Österreich sind föderalistisch aufgebaut und haben für den Bildungsbereich eine Gesetzgebung auf Bundes- und auf Landesebene. Unterschiede gibt es jedoch hinsichtlich der Größe, da manche deutsche Bundesländer mehr Einwohner haben, als ganz Österreich zusammen. Dies ermöglicht die Einrichtung von eigenen Institutionen für schulische Auftragsforschung der Bildungsministerien der Länder und die Entwicklung umfangreicherer und differenzierterer Lehrpläne. Abgesehen von der Größe gibt es zwischen Deutschland und Österreich hinsichtlich der föderalistischen Struktur noch den Unterschied, dass in Deutschland die Bundesländer die Kulturhoheit haben, der Bund macht lediglich eine Rahmengesetzgebung, darf jedoch in die Kulturhoheit nicht eingreifen. Koordinationsorgan ist die Kultusministerkonferenz, in welcher Beschlüsse im Konsens gefasst werden. Grundlegende Bildungsreformen, die für ganz Deutschland gelten sind daher nur sehr schwer durchzusetzen, was auch im Bereich der schulischen Integration von Kindern mit Behinderung der Fall ist. In Österreich sind die Machtverhältnisse zwischen Bund und Land bei der Schulgesetzgebung genau umgekehrt wie in Deutschland. Schulstrukturelle Entscheidungen werden auf Bundesebene in Gesetzesform gebracht. Die wesentliche Reformbremse auf gesamtstaatlicher Ebene entfällt somit in Österreich. Weiters war für die schulische Integration behinderter Kinder in Österreich die gesetzliche Etablierung eines Elternwahlrechts zwischen Integration und Sonderbeschulung sehr förderlich. Ein Rechtsanspruch auf Integration wie in Österreich ist in den deutschen Landesschulgesetzen nicht vorhanden (vgl. Biewer 2006, S. 22 f.).

Entwicklung der schulischen Integration

Zeitliche Entwicklung

In Deutschland und Österreich bestehen Sonderschulen als eigenständige Systeme parallel zu den übrigen Strukturen des Schulwesens im Bereich der Primar- und Sekundarstufe. Bis Ende der 60er Jahre des 20. Jh. wurden diese Strukturen nicht in Frage gestellt, im Gegenteil, die Differenzierung des Sonderschulwesens wurde als bildungspolitischer Erfolg gesehen. Zu Beginn der 70 er Jahre kam es zur erstmaligen Infragestellung der Sonderschulen als einzige adäquate Schulform für Kinder mit Behinderung in Deutschland durch Wissenschaftler und Bildungspolitiker. Man begann mit Modellversuchen zur schulischen Integration, gefolgt von gesetzlichen Veränderungen, welche die Integration als Alternative zur Sonderbeschulung ermöglichten. Das Sonderschulsystem blieb aber gleichzeitig erhalten (vgl. Biewer 2006, S. 21 f.). 

In den 90er Jahren wurde schließlich der Begriff der Sonderschulbedürftigkeit in schuladministrativen Kontexten in Deutschland und in Österreich vom Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs abgelöst. Ressourcen wurden ab nun bei sonderpädagogischem Förderbedarf unabhängig vom Förderort bereitgestellt und Sonderschulen stellen seither nur noch eine der denkbaren Möglichkeiten dar (vgl. Biewer 2006, S. 22).

Im Lichte der Schulstatistik

Hinsichtlich der Gesamtgruppe der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und deren schulischer Platzierung gibt es deutliche Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich. In Österreich betrug der Durchschnitt der sonderpädagogisch klassifizierten Schüler in den vergangenen Jahren 3,6 %. Seit der 15. Novelle des Österreichischen Schulorganisationsgesetzes im Jahre 1993 gab es jedoch eine erhebliche quantitative Verschiebung von Sonderschulen hin zu integrativen Modellen. In Österreich besuchten im Schuljahr 2003/04 nur noch 1,2 % der Schüler in den Jahrgangsstufen 1 bis 4 und 1,9% in den Jahrgangsstufen 5 bis 8 Sonderschulen. In Deutschland hingegen ist der Anteil der Schüler an Sonderschulen kontinuierlich gestiegen. Im Jahre 1995 besuchten 4,3 % der Schüler eine Sonderschule und im Jahre 2003 bereits 4,8 %. Die Sonderschülerquote während der Pflichtschulzeit ist damit in Deutschland rund dreimal höher als in Österreich (vgl. Biewer 2006, S. 24).

Sekundarstufenintegration als Problemfeld

Im Bereich der Sekundarstufe I steht die Integration in Österreich und in Deutschland vor dem grundsätzlichen Problem der Selektion in Hauptschüler und Gymnasiasten. Der Öffentlichkeit ist kaum vermittelbar, dass nicht jeder Hauptschüler eine AHS besuchen darf, jedoch Schüler mit Behinderung Gymnasialklassen besuchen dürfen (vgl. Biewer 2006, S. 25 f.).

Wissenschaftliche Forschung und Lehrerbildung

Hinsichtlich der Bildung von Sonderschullehrern gibt es zwischen Deutschland und Österreich große Unterschiede. In Deutschland hat man in den 60er und 70er Jahren die Ausbildung der Sonderschullehrer in die Universitäten integriert, was dazu führte, dass die Ausbildung der Sonderschullehrer in Deutschland etwa doppelt so lang ist wie in Österreich. Auch die gegenwärtige Umbruchphase in der Pflichtschullehrerausbildung wird in Österreich nicht für eine Annäherung an universitäre Standards genützt (vgl. Biewer 2006, S. 26 f.).

Bewertung der gegenwärtigen Situation

Der Ausbau der schulischen Integration steckt in Österreich und in Deutschland gegenwärtig in einer Krise. Generell kann man sagen, dass die schulische Integration von Schülern mit Behinderung in Österreich breiter ausgebaut, auf allen gesellschaftlichen Ebenen besser akzeptiert und nachhaltiger verankert ist als in Deutschland (vgl. Biewer 2006, S. 27). Gemeinsam ist Österreich und Deutschland, dass integrative Maßnahmen regional sehr unterschiedlich ausgeprägt sind und dass es in beiden Ländern Probleme durch die geringe Bereitschaft, genügend personelle und materielle Ressourcen in integrative Maßnahmen zu investieren, gibt. Dadurch verschlechtern sich die Bedingungen von Integrationsklassen meist schleichend und es kommt zu Einbußen der pädagogischen Qualität (vgl. Biewer 2006, S. 25). In den letzten Jahren bereits erreichte Standards werden auch in Österreich wieder zurückgefahren (vgl. Biewer 2006, S. 27).

Quelle

Biewer, G. (2006). Schulische Integration in Deutschland und Österreich im Vergleich. Erziehung und Unterricht, 156, 21 – 28.


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