Fremde Schwestern. Zum Verhältnis von Allgemeiner Didaktik und empirischer Lehr-Lern-Forschung
Die Allgemeine Didaktik und die empirischer Lehr-Lern-Forschung beziehen sich auf denselben Gegenstandsbereich und trotz dieser Gemeinsamkeit ist ihr Verhältnis zueinander unklar und von Fremdheit und gegenseitiger „Nicht-Zur-Kenntnisnahme“ geprägt (vgl. Terhart 2002, S. 77).
1. Beobachtungen: Allgemeine Didaktik und Lehr-Lern-Forschung
Die Allgemeine Didaktik hat einen wichtigen Stellenwert in der Schulpädagogik und diese wiederum stellt die größte Teildisziplin in der Erziehungswissenschaft dar. Die grundlegenden Fragestellungen, mit denen sich die Allgemeine Didaktik befasst, sind Fragen des Lehrens und Lernens in allen Lernbereichen und auf allen Bildungsstufen. Das Ziel aller didaktischen Bemühungen besteht im erfolgreichen Lern- und Entwicklungsprozess der Schüler, jedoch stellen neben der großen Bedeutung des Lernens auch die Lerninhalte und ihre Begründung einen wichtigen Teil der Allgemeinen Didaktik dar (vgl. Terhart 2002, S. 77f).
Momentan kann man innerhalb der Allgemeinen Didaktik vier verschiedene Theoriefamilien unterscheiden:
Bei den bildungstheoretischen Ansätzen steht die Auswahl und Aufbereitung der Unterrichtsinhalte durch die Lehrperson im Vordergrund und diese Entscheidungen müssen mit den Voraussetzungen der Schüler abgestimmt werden. Wissenschaftlich gesehen wird die bildungstheoretische Didaktik der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zugerechnet (vgl. Terhart 2002, S. 78).
Lerntheoretische Ansätze nehmen die Sicht eines analysierenden und planenden Lehrers ein und ihre Aufgabe besteht darin, ihm gesicherte Informationen für die Gestaltung seines Unterrichts zur Verfügung zu stellen (vgl. Terhart 2002, S. 78).
Diese Ansätze sind wissenschaftstheoretisch der empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft zuzuordnen. Ein Lehrer hat in diesem Zusammenhang die Aufgabe, unter Berücksichtigung des Lehrplanes und der Lernenden Entscheidungen über die Unterrichtsziele, Inhalte, Methoden sowie Medien zu treffen (vgl. Terhart 2002, S. 78).
Kommunikations- und interaktionstheoretische Ansätze konzentrieren sich weniger auf die Lerninhalte sowie auf die planende und analysierende Sicht des Lehrers, sondern legen das Hauptaugenmerk auf den Prozess und die Auswirkungen von sozialen Interaktionen in der Klasse. Diese Ansätze fassen somit Unterricht als soziale Situation auf, in welcher die Beteiligten ihre individuellen Erfahrungen und Sichtweisen einbringen (vgl. Terhart 2002, S. 79).
Die neueste Theoriegruppe in der Allgemeinen Didaktik bilden die konstruktivistischen Ansätze (vgl. Terhart 2002, S. 79). „Konstruktivistische Didaktiken nehmen einen Teil der interaktionsorientierten Unterrichts- sowie auch einen Teil der sog. erfahrungs- und handlungsorientierten Methodenkonzeptionen in sich auf“ (Terhart 2002, S. 79). Studien zeigen, dass mit einem konstruktivistischen Unterrichtsverständnis verbunden ist, dass die Schülerinnen und Schüler mehr Möglichkeiten vorfinden, ihren Lernprozess selbst zu steuern als im traditionellen Unterricht. Und diese Selbstregulation, dieses Ausmaß an Autonomie, machen es durchaus auch möglich, unter bestimmten schulischen Rahmenbedingungen auch zu Fehlhandlungen und Übergriffen zu führen. Es ist daher zu fragen, ob Schulen beim Umgang mit Konstruktivismus und Selbstregulation immer den
n Weg seit der Einführung genommen haben.
Da diese Ansätze untereinander sehr verschieden sind, ist ihre wissenschaftstheoretische Zuordnung sehr schwierig. Wichtig ist für das konstruktivistische Denken in der Didaktik, dass Lehrer das Lernen nicht erzeugen, sondern nur anregen können (vgl. Terhart 2002, S. 79).
2. Lehr-Lern-Forschung
Die Lehr-Lern-Forschung hat genauso wie die Allgemeine Didaktik das Lehren und Lernen in unterschiedlichen Kontexten zum Thema. Lehr-Lern-Forschung kann zusammenfassend als Sammelbegriff für empirische Forschungen gesehen werden, welche sich mit den Mikroprozessen von Unterrichts- und Lehr-Lern-Situationen beschäftigen. Grundsätzlich werden bei der empirischen Lehr-Lern-Forschung sämtliche Aspekte und Prozesse von Lehr-Lern-Lern-Situationen innerhalb und außerhalb institutioneller Kontexte betrachtet, jedoch dominiert de facto immer noch die Beschäftigung mit kognitiven Lernprozessen (vgl. Terhart 2002, S. 79f).
Der entscheidende Unterschied zwischen der empirischen Lehr-Lern-Forschung und der Allgemeinen Didaktik besteht darin, dass die Lehr-Lern-Forschung ein Forschungsbereich innerhalb der Pädagogischen Psychologie ist. Im Gegensatz dazu ist die Allgemeine Didaktik ein Element des Ausbildungsprozesses von zukünftigen Lehrern. Somit haben die Allgemeine Didaktik und die empirische Lehr-Lern-Forschung zwar einen gemeinsamen Gegenstandsbereich, jedoch ist einerseits der inhaltliche Fragehorizont der Allgemeinen Didaktik weiter als der der Lehr-Lern-Forschung und andererseits die Allgemeine Didaktik - mit all den institutionellen und rechtlichen Folgen - eng in den Kontext der Lehrerbildung eingebunden (vgl. Terhart 2002, S. 80).
3. Perspektiven für eine produktive Zusammenarbeit von Allgemeiner Didaktik und Lehr-Lern-Forschung
Fachdidaktische Lehr-Lern-Forschung: In der pädagogisch-didaktischen Diskussion werden Fach- oder Lernbereichsdidaktiken zunehmend höher bewertet, da allgemeindidaktische Ansätze oftmals sehr praxisfern sind. Diese Entwicklung korrespondiert mit der Aussage innerhalb der Lehr-Lern-Forschung, dass Lehr-Lern-Prozesse immer auf einen bestimmten Inhalt bezogen sein würden (vgl. Terhart 2002, S. 83f).
Die Kontexte des Lehrens und Lernens: Eine weitere Annäherung zwischen Allgemeiner Didaktik und empirischer Lehr-Lern-Forschung erfolgt durch das zunehmende Interesse an den Kontextfaktoren von Unterrichtssituationen und -prozessen. Dies bedeutet sowohl für die Allgemeine Didaktik als auch für die Lehr-Lern-Forschung eine stärkere Betrachtung institutioneller, sozialisatorischer und gesellschaftlicher Einflussfaktoren (vgl. Terhart 2002, S. 84f).
Evaluation: Umgang mit Leistungsbeurteilungen: Eine dritte, zukünftig gemeinsame Aufgabe von Didaktik und Lehr-Lern-Forschung kann die präzisere Analyse und Optimierung der Kompetenzen von Lehrern im Bereich der Leistungsbeurteilung sein, da es in diesem Bereich ein hohes Maß an Unsicherheit gibt (vgl. Terhart 2002, S. 85).
Quelle
Terhart, E. (2002). Fremde Schwestern. Zum Verhältnis von Allgemeiner Didaktik und empirischer Lehr-Lern-Forschung. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 16, 77-86.