Pädagogische Fachzeitschriften 2006

Witlof Vollstädt

Steuerung von Schulentwicklung und Unterrichtsqualität durch staatliche Lehrpläne?

„1. Input durch Lehrplanrevision“ (Vollstädt 2003, S. 194)

„Wo immer es darum geht, Erwartungen an das Schulsystem eines Bundeslandes zu formulieren und schulisches Lehren und Lernen neuen Erfordernissen anzupassen, wird der Ruf nach neuen Lehrplänen laut. Wo immer Zweifel an der Wirksamkeit von Schule und an ihrer Zukunftstauglichkeit bestehen, werden ihre Lehrpläne überprüft“ (Vollstädt 2003, S. 194).

„Schließlich gehören staatliche Lehrpläne, neben Stundentafel und Prüfungsbestimmungen, zu den wichtigsten staatlich autorisierten Rahmenfestlegungen für den Schulunterricht und werden offiziell als entscheidende Instrumente zur staatlichen Steuerung schulischer Lernprozesse angesehen (vgl. Künzli 1998, S. 7)“ (Vollstädt 2003, S. 194).

Funktionszuweisungen für staatliche Lehrpläne sind (vgl. Vollstädt 2003, S. 195):

„Die Legitimationsfunktion“ (Vollstädt 2003, S. 195):

„Der Staat bzw. das Kultusministerium des jeweiligen Bundeslandes legt mit Lehrplänen gegenüber der Öffentlichkeit Rechenschaft ab, welche Inhalte in den Schulen gelehrt und welche generelle Ziele, Prinzipien und Standards dabei eingehalten werden sollen“ (Vollstädt 2003, S. 196). Ihre generelle Legitimationsberechtigung erhalten diese Lehrpläne allerdings nur, wenn ihnen tatsächliche Wirkungen unterstellt werden, was zur Orientierungsfunktion führt“ (Vollstädt 2003, S. 196).

„Die Orientierungsfunktion“ (Vollstädt 2003, S. 196):

„Ganz im Sinne von Weniger formuliert der Lehrplan ein Grundverständnis des jeweiligen Unterrichtsfaches, setzt einen Rahmen für die zu behandelnden Inhalte, gibt Anregungen und Hilfen für die Planung und Gestaltung von ‚gutem’ Unterricht und umreißt den Entscheidungsspielraum für die Berücksichtigung der konkreten Unterrichtsbedingungen ‚vor Ort’. Obwohl diese Orientierung in erster Linie auf jede einzelne Lehrkraft gerichtet ist, sprechen aktuelle Entwicklungstendenzen dafür, dass sie zunehmend auch schulinterne Pläne, curriculare Absprachen und Kooperation im Kollegium betrifft“ (Vollstädt 2003, S. 196).

„Da in der Regel kaum überprüft wird, wie und mit welchen Resultaten Lehrpläne das unterrichtliche Geschehen steuern, lässt sich etwas ironisch feststellen: Lehrpläne werden in die Schule gegeben in der Hoffnung, dass ‚treue Staatsdiener’ sich auch nach ihnen richten. Ob und wie dies geschieht, weiß niemand so genau“ (Vollstädt 2003, S. 197).

„2. Lehrplanarbeit zwischen Verwaltungsaufgabe und empirischer Forschung“ (Vollstädt 2003, S. 197)

„Gründe für den auch im internationalen Vergleich ungewöhnlichen Rückzug der Wissenschaft aus dem Geschäft der Lehrplanentwicklung wurden schon häufig diskutiert“ (Vollstädt 2003, S. 198). „Vor allem die unzureichende Analyse und Berücksichtigung der alltäglichen Unterrichtspraxis finden immer wieder ihre Kritiker. So gibt es nur wenig empirisch gesichertes Wissen darüber, ob und wie Lehrpläne Einfluss auf die Unterrichtspraxis nehmen, was Lehrerinnen und Lehrer bei ihrer alltäglichen Unterrichtsarbeit mit den Vorgaben von Lehrplänen tatsächlich tun, ob Lehrer(innen) tatsächlich Lehrpläne brauchen“ (Vollstädt 2003, S. 198f). „Bei der Unterrichtsplanung entwickelt […] jede Lehrerin, jeder Lehrer eine dem schulischen Alltag angepasste Unterrichtsstrategie, den individuellen Lehrplan, der mitunter schon erheblich von den Idealvorstellungen des staatlichen Lehrplans abweicht bzw. abweichen muss“ (Vollstädt 2003, S. 200). „Dieser mehrfache kreative Veränderungsprozess staatlicher Lehrplanvorgaben beeinflusst und verringert nicht nur deren direkte Wirkung, sondern beeinträchtigt auch deren empirische Ermittlung“ (Vollstädt 2003, S. 201).

„3. Steuerung durch Lehrpläne aus empirischer Sicht: Beispiel Hessen“ (Vollstädt 2003, S. 204)

„Die folgenden Ergebnisse3 entstanden im Rahmen eines Forschungsprojektes, mit dem von 1993 bis 1997 nach typischen Alltagsstrategien beim Umgang mit staatlichen Lehrplänen gesucht wurde, weil dabei ein Funktionswandel vermutet wurde, der bei der Entwicklung neuer Lehrpläne Berücksichtigung finden sollte“ (Vollstädt 2003, S. 204).

„Unter Berücksichtigung dieser Rahmenbedingungen lässt sich zur Wirkung staatlicher Lehrpläne auf Schulentwicklung somit generell feststellen: Offizielle Erwartungen an die Impuls- und Anregungswirkung von Lehrplänen sind größer als ihr tatsächlicher Einfluss im Schulalltag“ (Vollstädt 2003, S. 204). „Wirkungen der Lehrpläne sollten demzufolge weder über- noch unterschätzt werden, wenn es um Schulentwicklung geht, zumal sie in zahlreiche weitere Wirkungsfaktoren eingebettet sind“ (Vollstädt 2003, S. 206).

„3.1 Vom Lehrplan (relativ) unabhängige Faktoren“ (Vollstädt 2003, S. 206)

„Ob und wie gründlich Lehrerinnen und Lehrer sich mit staatlichen Lehrplanvorgaben auseinandersetzen […], hängt zunächst weniger vom jeweiligen Lehrplan selbst ab, sondern viel stärker vom allgemeinen Innovationsklima in der gesamten Schule und den sonstigen schulischen Rahmenbedingungen“ (Vollstädt 2003, S. 206).

„3.2 Curriculare Wirkungsfaktoren“ (Vollstädt 2003, S. 206)

„Die innovative Wirkung von Lehrplänen hängt auch davon ab, ob deren Qualität dem ‚Lehrplanideal’ der betroffenen Lehrer(innen) entspricht“ (Vollstädt 2003, S. 207).

„Fast 90 Prozent der befragten hessischen Lehrerinnen und Lehrer bestätigten die Existenz schulinterner Pläne für ihre Fächer, die für die eigene Unterrichtsplanung einen hohen Stellenwert besitzen. […] Gemeinsam mit eigenen Unterrichtserfahrungen, den Inhalten von Schulbüchern und sonstigen an der Schule vorhandenen Unterrichtsmaterialien sind sie die entscheidenden Grundlagen für die individuelle Unterrichtsplanung und […] wichtiger als die staatlichen Lehrpläne, selbst dann, wenn diese verändert werden“ (Vollstädt 2003, S. 208):

„Staatliche Basislehrpläne sollten in Zukunft, so der Wunsch vieler Lehrerinnen und Lehrer, lediglich das ‚Kerncurriculum’ der einzelnen Fächer und Lernbereiche vorgeben und auf Detailregelungen und umfangreiche Stoffkataloge verzichten“ (Vollstädt 2003, S. 209).

„5. Fazit“ (Vollstädt 2003, S. 212)

„Das offizielle Vertrauen in die Reformkraft und Steuerwirkung staatlicher Lehrpläne scheint nach wie vor ungebrochen, obwohl empirische Belege nur einen geringen direkten Effekt bestätigen und eher für eine indirekte Wirksamkeit sprechen. […] Somit können staatliche Lehrpläne in der Tendenz als Mittel indirekter Steuerung in einem sich weitgehend selbst regulierenden Bereich charakterisiert werden. Das heißt aber auch, dass die klassisch-traditionelle Input-Steuerung über Lehrpläne allein nicht die gewünschten Wirkungen erreicht und dringend die Ergänzung durch eine Output-Steuerung benötigt“ (Vollstädt 2003, S. 212).

Quelle

Vollstädt, W. (2003). Steuerung von Schulentwicklung und Unterrichtsqualität durch staatliche Lehrpläne. In H.-P. Füssel & P. M. Roeder (Hrsg.), Zeitschrift für Pädagogik. Recht – Erziehung – Staat. Zur Genese einer Problemkonstellation und zur Programmatik ihrer zukünftigen Entwicklung (S. 194-214). Weinheim: Beltz Verlag.

Künzli, R. (1998). Lehrpläne: Wie sie entwickelt werden und was von ihnen erwartet wird. In R. Künzli & S. Hopmann (Hrsg.), Lehrplanforschung als Wirksamkeitsforschung (S. 7-14). Chur/Zürich: Rüegger.


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