Holm Tetens
Willensfreiheit im traditionell definierten Sinn von „auch-anders-handeln-können“, gibt es für die Wissenschaft nicht. Freier Wille, als solcher, wird vorgetäuscht um eigene Handlungen zu kommentieren und zu rechtfertigen. Dies ist unerlässlich für das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft und ermöglicht erst das Entstehen einer Kultur (vgl.Tetens 2004, S 178 ff).
Schon Immanuel Kant beschäftigte sich in seinen Werken mit den Problemen der Willensfreiheit der Menschen. Er behandelt vor Allem die Frage:
Wie handelt ein Mensch und warum handelt er gerade so?
Kant kam zu dem Schluss, dass als Ursachen für Handeln Wille und Überzeugung stehen und dass die Person die Freiheit besessen hätte auch jederzeit anders zu handeln als sie das tatsächlich tat. Er formuliert die Definition, dass der freie Wille das „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität nicht nach den Naturgesetzen wiederum unter einer anderen Ursache steht“ (Kant zit. nach Tetens 2004, S.179)sei. Schon Kant sagt, dass diese Aussage über den freien Willen mit Forschung und Wissenschaft unvereinbar sei, denn die Grundsätze der Forschung gehen davon aus, dass es für alles Ursachen gibt, auch für die Ursachen selbst und Unverursachtes, wie den Freien Willen. Vom Standpunkt der Wissenschaft sind Kants Aussagen zum freien Willen also nicht relevant (vgl. Tetens 2004, S 179 f)
Wie begründet also die Wissenschaft den Freien Willen?
Die Möglichkeiten zur Erforschung des Gehirns waren zu Kants Zeiten nicht sehr ausgeprägt, heute erforscht die „Neurobiologie und die experimentelle Psychologie den Menschen mit naturwissenschaftlichen Methoden“ (Tetens 2004, S. 180). Trotzdem bleibt für die Wissenschaft das Problem der Ein- und Zuordnung der mentalen Zustände wie Wahrnehmung, Gefühle, Absichten usw. Dass diese aber durch die Aktivität des Gehirns als erste und letzte Instanz hervorgerufen werden, bleibt für die Neurobiologie unumstritten. In einem durchgeführten Experiment wurde herausgefunden, dass „chemische Aktivitäten in den Nervenzellen unser Handeln und Verhalten“ (Tetens 2004, S. 180) im Voraus steuern. Dies bedeutet, dass wir uns „ längst zum Handeln entschieden haben, wenn die bewusste Intention dazu gebildet wird“ (Prinz zit. nach Tetens 2004, S. 180).
„Wir tun nicht was wir wollen, sondern wir wollen was wir tun“ (Prinz zit. nach Tetens 2004, S. 180).
Auch diese Aussage lässt sich nicht mit Kants Definition zum Freien Willen vereinbaren, da er ja davon ausgeht dass wir vorher Entscheiden und Wollen, bevor wir handeln. Weiters ist es auch nicht möglich, wie Kant meint, anders-zu-handeln, wenn elektro-chemische Prozesse unsere Handlungsweise beschließen. Mentale Zustände, wie auch der Freie Wille, sind demnach nur Begleitzustände zu den Aktivitäten der Nervenzellen (vgl. Tetens 2004, S. 181)
Für jeden von uns persönlich sind seine Wahrnehmung, seine Überzeugungen und Wünsche aber mehr als ihnen die Wissenschaft zuschreibt. Sie helfen uns unser Handeln zu „beschreiben, erklären, rechtfertigen und kritisieren“ (Tetens 2004, S. 181) und letztendlich auch vorauszusagen. Unser Handeln ist ständig begleitet von Kommentaren, von uns selbst oder von Anderen. Wenn wir im Vorhinein mitteilen was wir wollen und die Aussage dann durch die Ausführung bewahrheiten ist dies eine begleitende Selbstkommentierung. Sie dient dazu anderen Personen verständlich zu machen warum ich Handlungen tätige, welche Mittel ich dazu verwende und welche Ziele ich verfolge. Das Eintreten dieses prognostizierten Verhaltens ermöglicht dann entsprechend darauf zu reagieren, ohne Selbstkommentierung dieser Art wäre demnach kein Zusammenleben in Gesellschaft möglich und auch die Entwicklung von Kulturen wäre gefährdet gewesen (vgl. Tetens 2004, S. 181 f)
Erlernte Selbstkommentierung als erfolgreiche Strategie der Evolution
Schon die steinzeitlichen Menschen merkten, dass das Zusammenleben in der Gruppe viele Vorteile bringt. Um die Nachteile möglichst gering zu halten, mussten sie lernen ihr Verhalten zu koordinieren und gegenseitig aufeinander abzustimmen. Durch die Kommentare der Mitglieder der Gesellschaft wussten sie dann ob sie sich richtig verhielten. Die Menschen lernten auf das Gehörte zu achten und sich gegebenenfalls anzupassen und ihr Verhalten zu ändern. Sie wirkten also durch die Sprache verhaltenswirksam aufeinander ein und lernten dadurch sich selbst und ihr Verhalten besser einzuschätzen (vgl. Tetens 2004, S. 181 f)
Selbstkommentierung als Anleitung für Verhalten in der Gruppe
Die Menschen begannen auch ihr eigenes Verhalten „vorbereitend, begleitend oder nachträglich zu kommentieren“ (Tetens 2004, S. 182), am Anfang noch laut, später genügte es den Menschen wenn sie sich still im Inneren kommentierten und sich ihr Verhalten bewusst machten. Sie übernahmen selbst die „Rolle der äußeren Beobachter, die (…) Verhalten kommentieren und dadurch regulieren und bewerten“ (Tetens 2004, S. 182). Auch die Freiheit des Willens ist so eine Form der Selbstkommentierung. Wenn man sich sagt „Wenn ich wollte, könnte ich auch anders handeln, als ich tatsächlich gehandelt habe“(Singer zit. nach Tetens 2004, S.183), dann bedeutet dies hier nur, dass man von den Anderen nicht daran gehindert werden würde, zumindest nicht physisch. Gleichzeitig wird aber genau das Verhalten gerechtfertigt und gestärkt, das man tatsächlich ausführt. Das bedeutet, dass unser Verhalten von Handlungsvorschlägen beeinflusst wird (vgl. Tetens 2004, S. 183 f)
Inwiefern sind also Selbstkommentare verhaltenswirksam und beeinflussend?
Die Kommentare lösen das Verhalten nicht aus, sie identifizieren und beschreiben die Handlung nur als solche. Ein konkretes Beispiel dafür ist eben dieser Freie Wille. Wir haben schon längst beschlossen was wir tun werden, oder die Handlung ist sogar bereits in Gange, wenn wir sagen, dass wir das jetzt tun wollen. Das heißt, wir „kommentieren was wir tun, gleichzeitig oder nachträglich“ (Tetens 2004, S. 183). Demnach haben Selbstkommentare einen „funktionalen Sinn und Nutzen“ (Tetens 2004, S. 184), sie sind unerlässliche Informationsquellen über das kommende oder bereits begonnene Handeln, ohne die wir das Verhalten nicht in den sozialen Kontext einbinden könnten (vgl. Tetens 2004, S. 184).
Tetens, H. (2004).Psychologische Rundschau, 55.Jahrgang, 175 185.